2010-11-21

Aber was ist eine „Gemeinschaft“?

[But what is "Community"?]
[А что такое “комьюнити”?]

[Dies ist ein weiterer Gastartikel von Evgeniy den er als Reaktion auf meinen Artikel "How (not) to Organize a Community" geschrieben hat. Er stellt eine, für einen Russen, offensichtliche Frage: "Wie man WAS BITTE (nicht) organisiert?" Denn sehen Sie bei genauer Betrachtung erscheint das englische Wort Community (Gemeinschaft) recht bedeutungslos. Englischsprachige gehen davon aus das sie genau wüsste was es bedeutet wenn sie es benutzen, aber einem Russen der versucht es zu übersetzen bleibt nur diese Liste: Gesellschaft, Vereinigung, Ortsteil, Bezirk, Herberge, Bundesland, Bevölkerung, Anwohner, Gemeinschaftsbesitz." Man könnte glauben das "Gemeinschaft" nur eine schwulstige und aufgeblasene Umschreibung für "Leute" ist. Genau wie die Pflegekinder amerikanischer Nannys (Verzeihung, "Tagespflege-Spezialistinnen"), "Aktivitäten nachgehen" anstatt zu "spielen", wie normale, nicht-Roboter Kinder. Wie konnte ich so etwas übersehen? "Weil Du auf Idioten hörst", meint zumindest meine Frau. Wie auch immer, es war gut von Evgeniy mich davon zu überzeugen.]

Ich habe gerade deinen Artikel über die Unterschiede der "komyooniti" gelesen. Als ein Sprachforscher frage ich dich nun, was wäre die beste Russische Entsprechung für dieses Wort?

Es wurde mir eingebläut, die notwendigsten Dinge wären Essen, ein Dach über dem Kopf, Sicherheit und Mobilität, die ersten beiden insbesondere, und das alles Andere nur gut dazu ist einen zu verführen. Und es scheint das der beste Weg an Essen zu gelangen nicht wäre es zu nehmen, zu stehlen oder zu kaufen sondern es selber anzubauen und zu bewachen. Denn stets gibt es Leute vor denen man es bewachen muss. Das bedeutet man sollte nahe seiner Nahrungsquelle weilen. Aber wenn die industrielle Nahrungsmittelproduktion hops geht und kein Essen mehr in die Städte geliefert wird, sind dann die Bewohner rückständiger kleiner Dörfer nicht die Gewinner? Man kann sich Raubzüge von Banden in ländliche Gegenden vorstellen, die Scheunen und Felder plündern oder den Bewohnern Tribut abpressen, wie zu Feudalzeiten - aber doch nur wenn sie genug Treibstoff finden um dort hin und wieder zurück zu gelangen.

Ich weiß das, egal welches Wirtschaftsmodel oder Regime auch obsiegt, meine russische Dorfverwandtschaft überleben wird, sofern sie ihr Land behalten und sofern der Klimawandel nicht alle Flora und Fauna in der Gegend vernichtet. Ich glaube das der Russe, durch Jahrhunderte der Leibeigenschaft des GULAGS und durch die Erfahrungen der Sowjetzeit geprägt, und trotz seines Alkohol- und Drogenmissbrauchs sowie seinem moralischem Verfall, ein sehr widerstandsfähiger Menschenschlag geworden ist.
Außerdem, als Kind aus einem Industrieghetto stimme ich vollkommen damit überein das die Unterschicht besser vorbereitet ist. Unsere Stadt ist eine stinkende, staubige und extrem Industrialisierte Hafenstadt. Sie wird von verzweifelten, verbitterten ja grausamen Menschen bewohnt. Mütter müssen ihre Kinder oft alleine großziehen weil ihre Ehemänner das halbe Jahr auf See verbringen. Die Handelsmarine bietet den praktisch einzigen Weg um über die Armutsgrenze zu gelangen. Die kriminellen Elemente sind reich und gut organisiert, genau wie es sein sollte in einer Hafenstadt. Jedes Kind kennt die Namen der gefeierten Lokalkriminellen (die sogenannten "Machthaber"), darunter auch einige legendäre, die im Mahlstrom der 1990er untergegangen sind. Kleine Kinder spielen Cosa Nostra und berauben Leute auf der Straße. Jeder von ihnen gehört zu einer Nachbarschaft, oder sogar zu einem bestimmten Hinterhof. Zuweilen gibt es Kiege zwischen Kindern verschiedener Wohnblocks. Zu jeder Zeit des Tages ist die wichtigste Frage bei einem Aufeinandertreffen: "Aus welcher Nachbarschaft kommst du?" Wenn man das Pech hat aus der Falschen Gegend zu kommen hat man vielleicht noch eine Chance, sofern man einen der lokalen, kriminellen Machthaber kennt. Wenn man beschließt die Polizei einzuschalten handelt man sich nur zusätzlich offiziellen Ärger ein. Kluge Leute spazieren nicht aus Ihrer Nachbarschaft in Gegenden in denen sie niemanden kennen. Kinder wissen wer wo wohnt, wer sie ausrauben würde und überschreiten die Grenzen nicht. Die Eltern sind nicht sonderlich besorgt um die Sicherheit ihrer Kinder, und die diese lernen schnell genug was sie im Alltag brauchen, wie man Nasen bricht, wie man wachsam ist und wie man wie ein Gangster spricht, wer ein leichtes Ziel für Taschendiebstahl ist, wie man ein Straßenkämpfer wird. Sie fangen etwa mit sieben Jahren an, sobald sie in die Schule kommen. All das passiert recht spontan und ohne eine Verschwörung dahinter. So wird es immer sein in meiner Stadt. Es ist keine angenehme Art zu leben, aber man kann es überleben.

Ich habe bereits einige der Umstände erlebt welche in Reinventing Collapse beschrieben stehen. Ein paar meiner Freunde sind in der Kindheit vom rechten Weg abgekommen, einige haben gesessen, andere mehrfach. Aber ich war sicher, dass sie mich nicht anrühren, oder jemand anderen mich anrühren lassen würden. Mehr als einmal haben sie mir meine Haut gerettet und mir sogar finanziell geholfen. Einige haben bei mir gewohnt, ein paar hab ich vor der Polizei versteckt: Es sind "unsere Leute" und die Polizei sind unsere "Feinde" - zusammen mit dem Rest der Regierung, und wir müssen "unsere Leute" vor ihnen beschützen.

Nichts von alle dem gab es in dem Dorf meines Vaters. Es gab viele Alkoholiker und Drogensüchtige, aber alle gehörten "zu unseren Leuten", und so musste niemand bekämpft werden. Wenn jemand von uns angegriffen wurde suchte das gesamte Dorf nach dem Übeltäter. Theoretisch hätte ein Fremder, der sich nicht zu benehmen wusste, auf der Stelle seine Abreibung bekommen, aber tatsächlich existierte keine Straßenkriminalität. Fahrräder wurden gestohlen, aber das war es auch.

Die Menschen dort sind sehr gesellig. Zu allen Hochzeiten, Beerdigungen, Einberufungen, Geburtstage und Jahresfeiern ist das Haus voll von Leuten, es gibt einen Haufen Essen, viel Gesang und Tanz. Jeder hat seine eigene Örtliche Nahrungsquelle, und natürlich brennt jeder seinen eigenen Alkohol. Alle Spaziergänger begrüßen sich, gleich ob sie sich kennen oder nicht. Freunde und Nachbarn werden wie Familienangehörige behandelt. Russen benutzen nicht das Wort "Cousin" - jeder ist einfach ein Bruder oder eine Schwester. Das sagte eine Menge über unsere Kultur. In diesem Dorf habe ich so viele Brüder, Schwestern, Nichten und Neffen, Onkel und Tanten, Großväter und Großmütter, dass in jedem zehnten Haus jederzeit herzlich willkommen wäre. Dort aufgewachsen habe ich mich gelangweilt, und mich nach dem Leben im Betonjungel der Städte gesehnt. Aber das Dort war das echte leben, das Leben wie es sein sollte.

Die Familie meines Vaters hat auf diesem Land noch keine Jahrhunderte gelebt. Sie emigrierten in den 1940er Jahren aus dem hungernden Ural in den fruchtbaren Kuban. Aber nichts hielt sie davon ab binnen einer Generation zu "unseren Leute" zu werden. Mein Großvater hatte so viele Brüder und Schwestern das das Dorf eine Art Clan - eine Großfamilie war. Jeder war entweder verwandt oder befreundet, oder befreundet mit den Freunden, so hatte man jederzeit einen wohlwollenden Polizisten, Inspekteur, Doktor, Lehrer, Sozialarbeiter, Militärangehörigen usw. zur Hand. Alle Geschäfte wurden auf diese Art abgewickelt: durch Beziehungen, welche die einzige Garantie für nützlichen und erstklassigen Service darstellten.

Der Schwarzmarkt florierte dermaßen das niemand auf regulären Erwerb oder gefüllte Geschäftsregale angewiesen war. Viele Männer fischten illegal, und Beziehungen zur Fischereibehörde halfen dabei sehr. Alle hatten Gemüsegärten, Hühnerställe, Rinder und Schweine. Wir kauften Salz und Brot in den staatlichen Geschäften, obwohl meine Großmutter das Brot genauso gut selber hätte backen können. Aber das Schönste am Schwarzmarkt sind natürlich die Betäubungsmittel. Liebe Leser, warum denken Sie liegt Russland bei pro Kopf Verbrauch von Alkohol hinter Luxemburg der Schweiz und Tschechischen Republik? Nun das liegt daran das der tatsächliche Alkoholverbrauch in Russland nicht zu berechnen ist. Zu sagen das nicht alles was die Russen trinken aus Geschäften stammt, trifft die Sache nicht im Ansatz. Produktion und Vertrieb von Schwarzmarkt-Alkohol floriert in Russland wie sonst nirgends auf der Welt. Politiker in Supermächten scheinen ein schlechtes Geschichtsgedächnis zu haben. Jedermann weiß wie die Prohibition in den USA kriminelle Syndikate mächtig und den Kennedy-Clan reich machte. Ungeachtet dessen erließ Gorbachov am 17 Mai 1985 das "Nüchternheits-Gesetz" welches sich als fatal für die Sowjetwirtschaft erwies. Die Schwarzmarktproduktion erblühte und gedieh bis in die Neunziger. Vor dem Gesetz machte der Verkauf von Alkohol 25-30% des Staatsbudgets aus, daher war Gorbachevs Entscheidung möglicherweise der letzte Sargnagel für das Sowjetregime.

In Sachen Transport; auf der belebtesten Straße im Dorf fuhr maximal ein Auto pro Minute, daher war die Luft sehr sauber. Nachts wurden das Dorf und die umliegenden Höfe sehr dunkel und ruhig. Aber selbst dieser kleine Ort hatte Busanbindungen in verschiedene Richtungen, und die Fahrer konnte man bitten an jedem Haus anzuhalten. Mein Onkel fuhr einen solchen Bus, und so hatte unsere Familie bei speziellen Anlässen einen Bus für sich, um Großausflüge zu machen - auf Staatskosten natürlich! (Jeder wusste es, und niemanden hat es gestört.)

Das Ausmaß an Armut war zuweilen erschreckend, aber etwas daran vermittelte ein Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit. Ich erinnere mich wie ich die Nachrichten über Demonstrationen in Moskau 1991 schaute: Eine Menge die "Jelzin ist ein Verräter" riefen marschierte drohend auf eine Reihe Bereitschaftspolizisten zu, worauf ein Handgemenge folgte. Aber uns scherte uns nicht, da es nicht die geringste Bedeutung für uns hatte. Wir waren arm unter den Sowjets und wir waren danach arm, aber wir hielten zusammen. Wann immer wir jemanden von uns verheiraten, begraben oder einen Regierungsjob verschaffen mussten, die Lösung war schon da. Familienfeiern wurden nie im engen Kreis abgehalten. Das Haus war stets offen, das Essen wurde von den Gästen mitgebracht, und es gab immer ein oder zwei Musiker unter ihnen, denn nach Essen und Trinken lieben Russen zu singen. In solchen Momenten kann man vergessen, dass man in einem Drittweltland lebt und das Leben ziemlich hart ist. Samstag ist Sauna Tag und eine weitere Ausrede um Gäste zu empfangen, da ein Saunagang entspannt und zur Konversation anregt. Dies sind die einfachen Zutaten die eine echte Gemeinschaft ergeben. Familie, Clan, Heimat - wo man sich in jeder Situation sicher fühlt.

Es scheint das Russland und die ehemaligen Ostblockländer schon durch die Hölle gegangen sind und sich nun erholen, während die USA und andere, ehemals reiche Länder, noch durch diese Hölle gehen müssen, und niemand weiß wie das ausgehen wird. Die Moral der Geschichte ist einfach: Um in einem Drittweltland zu überleben muss man wissen wer zu einem gehört, und wer die Fremden sind. Je mehr man auf der eigenen Seite weiß desto besser. Doch sobald jeder außerhalb der eigenen Familienhütte ein Fremder ist, wird es unmöglich. Dann hat man nicht die geringste Chance zu überleben.