2010-08-10

Das Streben nach Elend

[Misrable Pursuits]

Während ich dies schreibe, bin ich unterwegs nach Washington zu einer Konferenz - einer Konferenz (unterstützt von der Community Action Partnership) zum Thema "Die neue Realität: Wie sich das arme Amerika einstellt auf kommende härtere Zeiten". Auf dem Programm stehen Diskussionen über Erwerbstätigkeit, Ernährung, Wohnverhältnisse, Gesundheitswesen, Sicherheit, Bildung, Transportwesen, und sogar solche gefühligen (touchy-feely) Themen wie Gemeinschaftszusammenhalt (community cohesion), Kommunikation und - last but not least - vor der Cocktailpause: Kultur. Die Empfehlungen dieser Konferenz werden in einen Bericht eingearbeitet und die Schlussfolgerungen auf der jährlichen CAP-Konferenz noch diesen Monat präsentiert werden.

Das arme Amerika wird möglicherweise ein Land sein mit nur wenigen guten Jobs, mit scheußlichem Essen, mit heruntergekommenen Wohnungen, mit einem unerschwinglichen Gesundheitswesen, mit einer beklemmenden, aber dennoch unwirksamen inneren Sicherheit, mit einem Bildungsprogramm vollgestopft mit Dinosaurier reitenden Jesussen (Jesuses), mit einem Verkehrswesen bestehend aus abgetakelten Kleinlastwagen und Straßen voller Schlaglöcher, mit nicht viel mehr Gemeinschaftszusammenhalt als momentan und mit einer Kommunikation, die immer noch dominiert sein wird von den unternehmenseigenen Medien.

Aber andererseits - was wird aus diesem sonderbaren kleinen Diskussionsthema werden, welches ganz am Ende der Agenda auftaucht: die Kultur? Zwar erwarten wir künftig ein Heer von Armen, unkultiviert, ungebildet, ungehobelt; aber sollten wir darüber hinaus nicht erwarten, dass sich eine Kultur der Armut entwickeln wird als eine Anpassungsleistung ans Armsein? Für einen Anthropologen stellt Kultur einen Mechanismus der Anpassung dar, welcher sich herausbildet, um die Menschen zum Überleben zu befähigen und ihnen zum Gedeihen zu verhelfen, gemäß den sie umgebenden Bedingungen. Gut, für andere Leute mag Kultur darin bestehen, einen Freudentanz aufzuführen oder auf einem Instrument zu klimpern. Für mich ist Kultur in erster Linie eine Frage der Literatur.

Der russische Autor Eduard Limonov schrieb einmal über seine Erfahrungen mit Armut in Amerika: Zu seiner Freude hatte er festgestellt, dass er seine Einkünfte mit Mitteln aus der Sozialhilfe aufbessern konnte. Jedoch musste er alsbald feststellen, dass es ratsam war, ebendiese Freude besser geheimzuhalten; nämlich dann, wenn er (bei der Behörde) erschien, um sich sein Geld abzuholen. Kurioserweise nämlich erhalten in Amerika nur die Elenden und Geknechteten Sozialhilfe, nicht aber diejenigen, die zwar der Sozialhilfe bedürfen, aber ansonsten ein völlig zufriedenes Leben führen. Und obwohl es in Amerika - genau wie überall sonst in der Welt - durchaus möglich ist, zugleich arm und glücklich zu sein, ist man in Amerika gezwungen sich zu entscheiden: Um zu vermeiden, in alle möglichen unerfreulichen Situationen zu geraten, sollte man in diesem Land sorgsam darauf bedacht sein, entweder seine eigene Armut zu vertuschen oder aber den Umstand, dass man glücklich ist. Will man Sozialhilfe bekommen, bleibt einem nur die Wahl zu leugnen, dass man ein glücklicher Mensch ist.

Ein weiteres Kuriosum besteht darin, dass unzählige Amerikaner - egal ob reich oder arm - für ein Verhalten wie das von Limonov nichts als Verachtung übrig haben: Ein ausländischer Autor lebt in Amerika von Sozialhilfe, obwohl er doch durchaus etwas Geld verdient! Nun mag es einleuchten, dass die Reichen auf einen Limonov so reagieren; denn wenn man die Armen nicht zu Elenden machen kann, was nützt es dann überhaupt, reich zu sein? Nur - warum regen sich die Armen genauso über einen Limonov auf? Auch dies ist eine typisch amerikanische kulturelle Eigenart: Was die Leute hierzulande empört, ist nicht etwa das Verschleudern von Staatsgeldern. Erzähl' den Leuten etwas über die Billionen, die an nutzlose militärische Projekte vergeudet werden, und sie werden mit nichts als einem Gähnen reagieren - weil das schließlich business as usual sei. Aber erzähl' ihnen etwas über irgendeinen bedürftigen Menschen, der etwas umsonst bekommt (eating a free lunch), und sie werden augenblicklich vor Entrüstung schäumen. Erstaunlicherweise glauben ausgerechnet die Amerikaner felsenfest an das revolutionäre geflügelte Wort von Lenin: "Wer nicht arbeitet, soll auch nichts essen!" Eine der rüpelhaftesten Fragen, die man von Amerikanern gestellt bekommt, ist "Womit verdienen Sie Ihren Lebensunterhalt? (What do you do for a living?)". die einzig angemessene Antwort darauf ist "Wie bitte?", gefolgt von einem selbstzufriedenen Grinsen und einem steinernen Schweigen - weil sie dann vermuten, dass du ein unabhängiger reicher Sack bist, vor dem sie kriechen können.

Am schockierendsten ist der Umstand, dass es viele arme Amerikaner gibt, die zu stolz sind, staatliche Unterstützung zu akzeptieren, trotz ihrer augenfälligen Bedürftigkeit. Hingegen würden die Russen so eine Einstellung als absurd betrachten: Sie würden sich fragen, womit diese armen Idioten ein Problem haben - mit dem Umstand, dass es sich um Geld handelt, oder mit dem Umstand, dass es das Geld umsonst gibt? Es gibt in Amerika lebende Russen, die, weil sie sich unbedingt an die amerikanische Gesellschaft anpassen wollen, eine hohe Dosis der hier üblichen Heuchelei verinnerlicht haben; aber selbst diese Russen werden einräumen (zumindest in ihren weniger heuchlerischen Momenten), dass es geradezu töricht wäre, free money abzulehnen. Und seien Sie versichert - auch diese Russen würden das Geld bis auf den letzten Penny herausleiern. Mutter Russland hat nämlich keine Schnullerpuppen (dummies) großgezogen.

Aber wir wollen diesen Opfern nicht ihre Haltung zum Vorwurf machen. Denn was diese bedauernswerten Seelen veranlasst, frei erhältliches Geld einfach auf dem Tisch liegen zu lassen, ist ganz simpel: Sie haben eine Gehirnwäsche verpasst bekommen. Schließlich werden die Massenmedien - besonders das Fernsehen und die Werbung - bewirtschaftet von den Reichen, und die hämmern den Leuten unaufhörlich die Botschaft ein, dass harte Arbeit und wirtschaftliche Unabhängigkeit tugendhaft seien, während sie die Faulen und die Armen dämonisieren. Dieselben Leute, die amerikanische Arbeitsplätze nach China und Indien ausgeliefert haben, um ihre Profite zu steigern, wollen es zum common sense machen, dass die daraus resultierende Misere ausschließlich das Versagen der Elenden ist. Und während die Rolle des Profitmotivs zwar eine maßgebliche ist, sollte keinesfalls vernachlässigt werden, die bedeutsame Tatsache zu erwähnen, dass das Produzieren von Massenarmut ein vordringliches Ziel an und für sich ist.

Sehen Sie, es sind schwierige Zeiten für reiche Leute. Früher einmal hat der Besitz von einer Million Dollars aus Ihnen einen Millionär gemacht; diese Zeiten sind vorbei! Um heutzutage ein absolut sicheres und von der ökonomischen Realität vollisoliertes Leben zu führen, brauchen sie mindestens zehn Millionen, wenn nicht noch mehr, und je mehr Sie haben, desto nervenzermürbender werden für Sie die heftigen Wellenbewegungen der Finanzmärkte und die düsteren Prognosen der Experten. Um es auf den Punkt zu bringen: Sie können das Vermögen einer Person, über den Daumen gepeilt, realistisch einschätzen, wenn Sie danach gehen, wie nervös und elend diese Person aussieht.

Neulich hatte ich Gelegenheit zu erleben, wie ebendieses Elend zur Schau gestellt wird. Wir machten eine Woche Urlaub in Cape Cod. Wir nahmen ein Segelschiff hin und zurück (den Wind gab's gratis) und ankerten (die Vertäuung wird kommunal zur Verfügung gestellt, ist also erschwinglich). Wir paddelten bis zur Küste und wieder zurück zum Schiff in unserem selbstgebauten Sperrholzboot. Dann fuhren wir mit dem Fahrrad durch die Gegend und sammelten essbare Pilze entlang des Radweges. Nun wird um die Jahreszeit dieser Teil von Massachusetts komplett überrannt von wildgewordenen Massen der allerneuesten blinkenden SUVs mit Kennzeichen aus New York und New Jersey. Sie werden gefahren von den verschiedensten Exemplaren mittelalter betuchter amerikanischer Büro-Menschenfresser (Office Ogre) - der Rechtsanwalt, der Arzt, der Zahnarzt, der Banker, der Lobbyist mitsamt dem Unternehmer - von Leuten also, die versuchen, mit ihrer gesamten geraubten Beute (loot) irgendwohin abzuhauen. Allerdings wird die hoheitliche Inszenierung irgendwie gestört von jenen griesgrämigen, missmutig dreinschauenden Menschenfressern mit ihren Reibeisenstimmen sowie ihren schlaffen, übermedikamentierten Ehefrauen mit Stimmen wie ungeölten Türscharnieren. Wenn sie nicht irrlichternd in ihren SUVs herumfahren, sitzen sie in exklusiven Restaurants der oberen Preisklasse, spielen mit ihrem Essen herum und klatschen und tratschen, dass einem angst und bange werden kann. Längst haben sie vergessen, was es bedeutet, glücklich und sorgenfrei zu sein, und ihre schwerfälligen Versuche, Freude am Genuss vorzutäuschen, sind schmerzvoll zu beobachten. Glauben Sie mir: Der Anblick von armen, aber glücklichen Leuten bringt sie zur Weißglut.

Nun ist es keineswegs so, dass ich mich daran weide. Nein, wirklich, mir tun diese armen reichen Leute leid, und ich habe sogar eine gute Nachricht für sie: Ihr Zustand ist alles andere als unheilbar. Ich kenne Leute, die sind vorzeitig ergraut, haben an Gewicht verloren und sind schon vor Schrecken schreiend aufgewacht, während sie ihre letzten 500.000 Dollar an Ersparnissen ins Nichts dahinschrumpfen sahen, begraben unter einem Haufen Schulden - aber wenn erst einmal das ganze Geld abgefackelt ist und die hartnäckigen Gläubiger sich davonmachen mit den Überbleibseln ihres Besitzes, dann haben diese Menschen ein viel, viel sorgenfreieres Leben, und das wird ihnen die Chance geben, nochmal von vorne anzufangen und zu gewichten, was im Leben wirklich wesentlich ist und was ihnen wirklich Freude bereitet. Wir sehen also: Wo Gram ist, wächst Freude nach. Darum müssen wir uns nicht übermäßig grämen über die armen reichen Leute, denn so wie die Dinge stehen, lösen sich ihre Probleme wohl ganz von selbst. Und vergessen Sie eines nicht: Verglichen mit den respektablen, oft unüberwindlichen Herausforderungen, vor denen jene stehen, die versuchen, ihrer Armut zu entkommen, fällt die sich nach unten orientierende Mobilität kinderleicht und kann mit ein bisschen Weitblick so komfortabel wie stilsicher vollzogen werden.

Für die Armen Amerikas habe ich ebenfalls gute Nachrichten. Obwohl es zwar extrem unwahrscheinlich ist, dass sie jemals um einen Deut reicher werden, sind sie bereits jetzt reich genug. Neulich hörte ich eine Story auf NPR über eine arme Familie, die auf Jagd zu gehen pflegt nach herabgesetzten Lebensmitteln, dann jedoch vor der Vorratskammer ihres eigenen privaten Minivans innehielt! Eine arme Familie also, die etwas besitzt, was in vielen Teilen der Welt auf ein komplettes Busunternehmen hinauslaufen würde! Weil, selbst wenn sie nicht genug herabgesetzte Lebensmittel auftreiben könnten, hätten sie immer noch genug, um ihre Kinder durchzufüttern, während die Erwachsenen eben eine Mahlzeit ausfallen ließen. Das ist gesund: Hunger ist symptomatisch für einen guten Appetit, und bei dem gegebenem Leibesumfang der meisten Amerikaner ist periodisches Fasten eine vernünftige Wahl. Mehr noch, diese Familie klang irgendwie ziemlich glücklich mit ihrem Lebensschicksal.

Was ich damit sagen will: Eine arme, aber sorgenfreie Zukunft mag auf sehr viele von uns warten, sowohl auf die faulen Reichen als auch auf die faulen Armen - wie eine einzige glückliche, wenn auch weitgehend verarmte Familie. Nur, um dies zu erreichen, müssen wir die Kultur verändern. Es sollte sich unbedingt herumsprechen, dass free lunch in der Tat eine sehr gute Sache ist, ganz egal, wer ihn isst und warum er das tut, und machen Sie sich nichts draus, dass Lenin einst sagte "Wer nicht arbeitet, soll auch nichts essen." Und wo wir gerade dabei sind, lassen Sie uns auch verzichten auf auf das abgedroschene Sprichwort von wegen "Arbeit macht frei", welches den Nazis gefiel, weshalb sie es in Schmiedeeisen gefasst oben auf die Tore ihrer Konzentrationslager plazierten. Lassen Sie uns die Kommunisten und die Faschisten und die Kapitalisten dem sprichwörtlichen Schrotthaufen der Geschichte übergeben! Lassen Sie uns stattdessen, völlig unentgeltlich, Jesus zitieren: "Sehet die Lilien auf dem Felde, wie sie wachsen. Sie arbeiten nicht und sie spinnen auch nicht. Und doch, sage ich euch, Salomo in all seiner Pracht und Herrlichkeit war nicht so geschmückt wie sie. ... Darum sollt ihr nicht besorgt sein: Was werden wir essen? Was werden wir trinken? oder Womit sollen wir uns kleiden? ... Daher sorget euch nicht um die Übel des morgigen Tages. Denn der morgige Tag wird für sich selbst sorgen. Es ist genug, dass jeder Tag hat seine eigenen Übel." Amen.