2016-02-23

Die Technosphäratu-Hypothese

[The Technospheratu Hypothesis]
[ L'hypothèse Technosferatu]
[L'Ipotese Tecnosferatu]

Mein nächstes Buch, Rückbau der Technosphäre: Zur Zähmung der Technologien, die unsere Autonomie,
Eigenständigkeit und Freiheit schädigen, soll im Herbst dieses Jahres in englischer Sprache bei New Society Publishers erscheinen. Nachfolgend ein Auszug.


Manchmal kann man den Eindruck bekommen, daß die Technospäre sich selbst in die Quere kommt. Welchen Sinn soll es haben, Ressourcen für Waffen zu verschwenden, wenn es schon mehr als genug davon gibt, um uns alle mehrfach umzubringen? Welchen Sinn soll es haben, die Umwelt mit langlebigen chemischen Giften und mit Radio-Nukleiden zu verseuchen, die in den menschlichen Dienern der Technosphäre hohe Krebsraten erzeugen? Welchem Ziel dient es, extreme Grade der Korruption in Regierungen und Banken zu schaffen, oder sozial extrem ungleiche Lebensbedingungen? Wie hilft es der Technosphäre, ihre Stärke und Kontrolle zu steigern, indem sie internationale Konflikte hervorruft und die Welt in Kriegsparteien spaltet? Sind das alles Pannen? Sind es kleine Randprobleme, die man nicht als besonders wichtig betrachten sollte? - Oder – ein schockierender Gedanke – sind das alles Vorgänge, die perfekt in die Strategie passen, aus der Sicht der Technosphäre?

Bei genauerer Betrachtung der Angelegenheit werden wir entdecken, daß alle genannten Manifestationen der Technosphäre, obwohl sie bei oberflächlicher Betrachtung Probleme zu sein scheinen, in Wirklichkeit in vielen, miteinander verwobenen Weisen für die Technosphäre hilfreich sind. Sie helfen ihr zu 'wachsen', komplexer zu werden – und die Biosphäre immer umfassender zu dominieren. Es gibt viel zu viele derartige Zusammenhänge, als daß man sie alle im Einzelnen nachzeichnen könnte, also wollen wir exemplarisch einige der wichtigeren untersuchen – diejenigen, auf die ich oben schon angespielt habe.

Was Krebserkrankungen angeht, so würde es scheinen, dass das Minimieren karzinogener Chemikalien und radioaktiver Belastungen in der Umwelt sowie das Verbannen von Mikrowellentechnik und ionisierender Strahlung eine sehr gute Idee wäre. Aber aus der Sicht der Technosphäre gesehen stellt sich heraus, daß solche Maßnahmen suboptimal wären. Erstens würden sie eine Grundregel verletzen, indem sie die Interessen der Biosphäre über die eigenen technischen Interessen der Technosphäre stellten. Zweitens würden sie den Bedarf an technischen Interventionen verringern. Krebsbehandlung ist ein Glanzstück der Technosphäre, die es ihr erlaubt, ihre bevorzugten Techniken zur Anwendung zu bringen – Chemie (in Form von Chemotherapie) und Physik (in Form von Strahlentherapie), um Lebendiges abzutöten (in diesem Falle Krebszellen). Drittens würden derartige Maßnahmen der Technosphäre eine Möglichkeit nehmen, Kontrolle über Menschen auszuüben und sie zu zwingen, ihr zu dienen und zu gehorchen, damit sie sich nicht in einer Situation wiederfinden, in der sie ohne sehr teure und angeblich lebensrettende Krebstherapie zurechtkommen müßten. Optimal für die Technosphäre ist also eine Situation, in der jeder an einer behandelbaren Form von Krebs erkrankt, und in der niemand hoffen kann, ohne Chemo- und Strahlentherapie überleben zu können. Die Technosphäre liebt es, wenn wir Geduld (englisch: patients, lateinisch: patientia) mit ihr haben, und die haben Patienten ja sozusagen per Definition.

Was das Fördern extremer Grade der Korruption in Regierungs- und Bankwesen betrifft, so scheint auch dies auf den ersten Blick kontraproduktiv zu sein: Würde man nicht erwarten, daß ein gesetzestreuer, effizient arbeitender Finanzsektor und eine transparent arbeitende, der Moral verpflichtete Regierung bessere Ergebnisse hervorbrächten? In der Tat – aber Ergebnisse für wen? Moralisches Regieren und ein sauberes Bankwesen würden wessen Zwecken dienen? Denen von... Menschen! Ganz richtig, es wäre wieder ein Bereich der Biosphäre, der die Früchte ernten würde. Folglich ist es aus der Perspektive der Technosphäre sehr viel wirksamer, wenn die Großbanken durch eine Vielzahl von Mechanismen Geldkanäle zum Korrumpieren von Regierungs-Mitarbeitern schaffen, damit eben jene Regierungs-Mitarbeiter dann auf eine wirksame Regulierung des Bankwesens verzichten und auch auf eine Verfolgung von Bankster-Kriminalität. Ist dieser Korruptions-Filz erst einmal etabliert, gehört die Loyalität der öffentlichen Bediensteten nicht mehr den trickreich agierenden, unberechenbaren und lebendigen Einheiten, die man unter der Bezeichnung „Wähler“ kennt, sondern abstrakten Zeichensystemen des Reichtums, die von der Technosphäre sehr viel leichter zu ihrem eigenen, maximalen Vorteil manipuliert werden können.

Zum guten Schluß: Wären eine friedliche Welt und eine vereinte, wohlwollende Welt-Regierung für die Technosphäre nicht sehr viel dienlicher als das immer wieder neue Aufspalten der Menschheit in Kriegsparteien? Schon möglich, aber wie würde sich eine solche Friedlichkeit auf die Steigerung der Fähigkeiten der Technosphäre zur Ermordung von Menschen auswirken? Wenn die großen Nationen sich beständig auf Krieg vorbereiten müssen, so müssen sie sich bewaffnen, und um sich bewaffnen zu können, müssen sie sich industrialisieren – eine unabhängige Industrie-Basis entwickeln und aufrecht erhalten. Gäbe es nicht den Rüstungs-Wettlauf, so würden es womöglich manche Nationen vorziehen, auf Industrialisierung zu verzichten und Agrarstaaten zu bleiben, aber wegen der Kriegsdrohung lautet die Wahl: Industrialisierung oder Besiegtwerden.

Krieg hat noch mehr Vorteile. Der Krieg erfordert daß Schwerter, sobald der Krieg vorüber ist, zu Pflugscharen umgeschmiedet werden, die die landwirtschaftliche Effektivität steigern, was Landarbeiter arbeitslos macht und sie vom Lande in die Städte vertreibt, wo sie gezwungen sind, in Fabriken zu arbeiten, was zu mehr Industrialisierung führt. Kriege bieten industrialisierten Armeen eine günstige Gelegenheit, nicht industrialisierte Stämme auszulöschen oder zu versklaven, die sonst ein schlechtes Vorbild abgeben könnten: Das von Menschen, denen es möglich wäre, außerhalb der Technosphäre ein zufriedenes Leben zu führen. Noch ein letzter Punkt: Fehlte eine mächtige Kriegsmaschine, so könnten sich Menschen leichter selbst organisieren und für ihre Sicherheit selbst sorgen, was es schwieriger machen würde, sie zu kontrollieren, während die Existenz eines mächtigen militärischen Waffenarsenals es notwendig macht, die Sicherheit in die Hände einer streng kontrollierten, strikt disziplinierten, technokratischen, hierarchischen Organisation zu legen - genau die Art von Organisation, die die Technosphäre anstrebt.

Es entsteht also der Eindruck, daß die Technosphäre, betrachtet man sie als Organismus, über eine Art primitiver, in der Entstehung begriffener Intelligenz verfügt. Sollte diese Aussage in Ihren Ohren wie eine fremdländische Mutmaßung klingen, so vergleichen Sie sie mit der Gaia-Hypothese von John Lovelock. Nach Lovelock können alle lebenden Organismen der Erde als eine Art ganzheitlicher Super-Organismus betrachtet werden – ein komplexes, selbstregulierendes System, das mit anorganischen Elementen des Planeten so zusammenwirkt, daß der Planet für Leben bewohnbar wird. Zu seinen grundlegenden Funktionen gehören die Regulierung der Temperatur, unterschiedlicher Gase und des Salzgehaltes der Ozeane. Die Fähigkeit der Biosphäre, ein homöostatisches Gleichgewicht aufrecht zu erhalten und es bei Störungen beispielsweise durch Vulkanausbrüche oder durch die Wirkung von Einschlägen größerer Meteore wiederherzustellen, kann als eine aufstrebende Intelligenz betrachtet werden, welche nach größtmöglicher Komplexität und Vielfalt des Netzes des Lebendigen strebt. Obwohl sie etwas kontrovers und nicht wirklich überprüfbar ist, wird die Gaia-Hypothese in einer ganzen Anzahl akademischer Disziplinen recht ernsthaft diskutiert.

In diesem Zusammenhang betrachtet, klingt meine Hypothese – nennen wir sie „Technosphäratu-Hypothese“ schon sehr viel weniger fremldändisch. Sie besagt daß die Technosphäre, die zusätzlich und in Opposition zu Gaia und der Biosphäre entstanden ist, über eine gewisse primitive, anfängliche Intelligenz verfügt, die es ihr ermöglicht, zunehmend komplexer und mächtiger zu werden und die Biosphäre in immer größerem Maße zu dominieren.

Anders als Gaia, die ein eigenständiger Organismus ist, stellt die Technosphäre einen Parasiten der Biosphäre dar, der lebende Organismen benutzt als seien sie Maschinen, und der versucht, sie so weitgehend wie möglich durch Maschinen zu ersetzen. Das ist etwa in der industrialisierten Landwirtschaft leicht zu erkennen, die komplexe Ökosysteme durch maschinenartig einfache, chemisch gedüngte Monokulturen ersetzt. Der agrarindustrielle Bauernhof, auf dem Tiere in einer Art mechanisierten Hölle gehalten werden, ist ein perfektes Beispiel dafür, wie die Technosphäre am liebsten mit höheren Formen des Lebens umgeht. Was uns Menschen betrifft, so ist das beste Beispiel für das Wirken der Technosphäre der moderne Industrie-Konzern, der Anreize schafft (sogar gesetzliche Vorschriften eingeschlossen), daß Menschen sich wie komplette Psychopathen verhalten und blindlings dem Profit-Interesse von Aktionären dienen, ohne jede Berücksichtigung aller menschlichen Belange.

In der Politik schafft die Technosphäre politische Maschinerien, die Wähler wie Labor-Tiere behandeln, die sie so zu konditionieren trachten, so daß sie bestimmte Knöpfe an Wahl-Maschinen drücken, wenn man ihnen bestimmte Reize durch die Massenmedien zukommen läßt.

Ein weiterer Unterschied zu Gaia, die danach strebt, ein homöostatisches Gleichgewicht aufrecht zu erhalten, besteht darin, daß die Intelligenz der Technosphäre nach Ungleichgewicht strebt, nach unendlichem Wachstum, was auf einem endlich großen Planeten mit begrentzen, nicht-erneuerbaren Ressourcen ganz offenbar eine tödliche Strategie darstellt - „tödlich“ in der Bedeutung von „ausgestorben“. Um das zu kompensieren, träumt die Technosphäre (mit der Hilfe gewisser Menschen, die diesem Traum sklavisch dienen) von Eroberungen im Universum: Von der Züchtung selbst-reproduzierender, raumfahrender Roboter. Sie träumt davon, diesen erschöpften, verwüsteten Planeten hinter sich zu lassen und andere Welten zu kolonisieren – andere Welten mit Massen weiterer nicht-erneuerbarer Ressourcen, die man in tumber Manier plündern könnte, und, besonders wichtig für die Technosphäre: komplette weitere Biosphären, die sie dominieren und zerstören könnte. Dieser letztere Aspekt ist besonders wichtig, denn die ganze Existenz der Technosphäre verliert allen „Sinn“, wenn sie nicht Lebewesen zwingen kann, wie Maschinen zu agieren. Ohne eine Biosphäre, die sie zerstören kann, wird die Technosphäre zu einem blinden und tauben Roboter, der ein Liedchen vor sich hinpfeift – im Dunkel der Sinnlosigkeit. Ohne die erstaunliche, wunderbare Qualität der Güte, die wir „Leben“ nennen, kann die Technosphäre nicht einmal davon träumen böse zu sein – ihr bleibt nur Banalität.

„Mätzchen im Weltraum! Gähn...“